von Mareike Melain.
Sehr geehrter Herr Scholz,
Diesen Brief schreibe ich Ihnen in dem Moment, in dem Sie in Berlin zum neunten Bundeskanzler von Deutschland vereidigt werden.
In Ihrem Interview mit der „Zeit“ vom 2. Oktober 2021 sprechen Sie von den „Bürgerinnen und Bürgern, die bisher alles richtig gemacht haben und geimpft sind“. Ich zähle mich zu diesen Bürgerinnen, die Sie da ansprechen wollen und möchte Ihnen ein paar essentielle Dingen aufzählen, die ich in meinen Augen nicht richtig mache – trotz Impfung.
Nicht richtig handle ich derzeit häufig im Umgang mit meinen Kindern: viel zu häufig schreie ich sie an, bin ungeduldig mit ihnen und lasse meine Erschöpfung und Überforderung, die das Jonglieren mit Unterricht zuhause, Haushalt, Berufstätigkeit und Quarantänezeiten bringen, an ihnen aus.
Nicht richtig habe ich mich verhalten, als Menschen in meinem nahen Umfeld am Anfang des Jahres 2021 in der Impfstoffentwicklung ein rasches Ende der Pandemie gesehen haben, und ich mich nicht ausreichend ins Zeug gelegt habe, zu versuchen ihnen begreifbar zu machen, dass eine Impfung, zwar ein entscheidender, aber nicht der einzige Mitspieler im Pandemieverlauf ist. Wie auch? Denn eine Pandemie durchläuft bestimmte biologische Entwicklungszyklen. Eine Pandemie ist eine Pandemie ist eine Pandemie.
Nicht richtig habe ich mich auch in meinem fehlenden Engagement für die Wiedereröffnung der Testzentren in unserer Kommune verhalten. Am Anfang des Herbstes, als die Inzidenzen wieder rapide ansteigen, schließt das einzige Testzentrum im Ort. Leider habe ich nicht bei der Gemeindeverwaltung dafür gekämpft, dass diese wichtige Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie erhalten bleibt.
Aber manches habe ich auch richtig gemacht.
Ich habe jeglichen schulischen Druck von meinen Kindern ferngehalten und alles in meiner Kraft Stehende dafür gegeben, dass sie emotional stabil durch diese Zeit kommen.
Ich habe meinen Impftermin an einen schwer-vorerkrankten Freund abgetreten, der durch die Knappheit des Impfstoffs erst Anfang des nächsten Jahres einen Termin für seine notwendige Dritt-Impfung erhalten hätte.
Ich habe mich in den letzten zwei Jahren nicht nur mit der Pandemie beschäftigt. Ich habe mich aus tiefster Überzeugung auch weiterhin für kleine Schritte zu möglichen Lösungen in der Mobilitäts- und Ernährungskrise, die unsere Gesellschaft verstärkt beschäftigen und fordern werden, eingesetzt.
Und ich suche nach keinem Schuldigen in der Pandemie, mache keinen Treiber der Pandemie aus. Das empfinde ich als eines der wichtigsten Verhaltensweisen in diesen gesellschaftlich stürmischen Zeiten. Ich versuche die Zeit anzunehmen und mich möglichst so zu verhalten, dass das Pandemiegeschehen kontrollierbar bleibt: ich meide Kontakte, besuche keine Großveranstaltungen, obwohl es derzeit erlaubt ist. Stattdessen entwerfe ich stückweise meine eigene Langzeit-Strategie um gegen die Erschöpfung, die Sorge um Gereiztheit und Spaltung in der Gesellschaft etwas im Kleinen entgegenzusetzen. Eine Langzeitstrategie, mit der wir vielleicht auch weiser und stärker die nächsten Krisen – seien es weitere Pandemien oder die Klimakrise – die am Horizont zu erkennen sind, meistern können.
Vielleicht wäre es mir leichter gefallen „alles richtig zu machen“, so wie Sie es mir in Ihrem Interview zuschreiben, wenn Entscheidungen von Gesellschaft, Politik und Medien demütiger, besonnener und bescheidener getroffen worden wären. Politische, gesellschaftliche und persönliche Entscheidungen müssen vielleicht in diesen Zeiten gar nicht den Anspruch erheben immer richtig zu sein. Was kann unser Handeln derzeit auch mehr sein als ein Versuch, das bestmöglichste im Sinne möglichst vieler zu erreichen?
Unsere Gesellschaft ist nicht zu vergleichen mit einem Versuch unter Laborbedingungen. Die Wisenschaftler:innen und Politiker:innen haben bei ihren Pandemiestrategien die Emotionen außeracht gelassen, die unser Leben lebenswert machen.
Mit dem Wunsch nach mehr Demut zur Wahrheit und einem respektvolleren Umgang miteinander im Jahr 2022 grüßt Sie,
Mareike Melain
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